Raum für Feinheiten

«Ich will nicht meinen Gefühlen ausgeliefert sein. Ich möchte sie benutzen, sie genießen und sie beherrschen.»
– Oscar Wilde
«Was denkst du über dieses Zitat?», eröffnete Pfr. Daniel Jaberg das Gespräch, welches er mit viel Umsicht führte. Es gelang ihm, einen Raum zu schaffen, in welchem ich mich willkommen fühlte, auch herausfordernde und schmerzliche Feinheiten meines Lebens mit der Gemeinde zu teilen.
Das Gespräch führte uns unter anderem nach Hongkong, wo ich 2012 als Trailing Spouse1 und frischgebackene Mutter in ein Umfeld hineingestellt wurde, welches in so vielen Aspekten diametral verschieden war von dem, was ich bisher kannte. Eine Welt, die immer wieder Gefühlswellen der Überforderung über mich ergoss und Fragen nach meiner Identität aufbrechen liess:
wer bin ich
wer bin ich im Grunde
wenn all das
was ich kenne
was mich
trägt
antreibt
bestätigt
ermutigt
fordert
einfach wegfällt
Wer bin ich trotz dem?
wer bin ich
wer kann ich werden
wenn versteckte Schätze
in mir wachsen
und mich
auf neue Weise
tragen
antreiben
bestätigen
ermutigen
fordern
Wer werde ich dann
durch das alles?
Monika Liechti
Hongkong 2012
Gestaltungsspielraum
Versteckte Schätze konnten wachsen. Nicht zuletzt, weil ich mich Themen stellte, welche ich über die Jahre fein säuberlich unter den Teppich gekehrt hatte. Das passiert leicht, wenn das Leben in gewohnten Bahnen läuft. Die offene Auseinandersetzung mit dem status quo, dem Schmerzhaften und Ungewissen eröffnete mir einen neuen Gestaltungsspielraum, welcher sich in überraschender Weise mit der Erfahrung einer ebenso einschneidenden Zeit als Teenager verwob (die Südostschweiz berichtete).
Daniel Jaberg schlug mit der Präsentation des SHELTER JAPANESE* Videos (s. unten) den Bogen zum Shelter Song-Projekt. Es war Vorläuferin von Das geheimnisvolle Leuchten und entstand einerseits in Kollaboration mit drei lokalen Schulen und wurde andererseits von internationalen KünstlerInnen mitgetragen. Der englische Liedtext wurde auf Kantonesisch, Japanisch und Tagalog2 übersetzt. Während des Schweizer Lockdowns im Jahr 2020 erschufen wir mit Teenagern eine schweizerdeutsche Interpretation. Als Ausdruck von ihren Gedanken, Fragen und Hoffnungen, auch über die Pandemie hinaus.
Aus dem Herzen gesprochen
Der Morgen war auf jeden Fall kein Firlefanz, eher ein buntes Sammelsurium an Kostbarem. Oder wie es eine Zuhörerin formulierte: «Du hast mir aus dem Herzen gesprochen.»
«Verkaufst du auch Gedichtsbände?», erkundigte sich eine andere Dame, welcher das abschliessend gelesene Gedicht besonders gefiel:
Dem Flussufer entlang treibend
Wo mächtige Wasser vorbei rauschen
Werden meine Schritte schneller
Um den Stimmen im Innern zu entfliehen
Auf das Stampfen der Strömung schauend
Völlig verloren in schaumigen Gedanken
Schliesse ich die Augen und versuche
Ängste und Schrecken abzuspülen
Vorwärts stolpernd Schritt für Schritt
Umhüllt von Zischen und Tosen
Spüre ich die brennende Sehnsucht
Diesem Spiel zu entkommen
Ängstlich fragend, ob auf der anderen Seite
Wohl Ruhe und Frieden wohnen
Sacke ich zu Boden und wünschte mir
Da neues Leben zu finden
Während sich Tränen über die Wangen ergiessen
Und es dem Flusslauf gleichtun
Drängt sich ein sanftes Flüstern vor
Eindeutig und voller Liebe:
Kind, ich sehe dich und ich kenne dich
Du bist kostbar für mich
Ich trage, ich umsorge
Ich bin hier, da für dich
Was zerschlagen ist, was zerbrochen scheint
kann Ort von Hoffnung werden
Ich bleibe und ich warte, sanft
Magst du bei mir verweilen?
Gott ist hier. Gott ist nahe
Ich spüre Wärme um mein Herz
Gott ist hier. Gott ist nahe
Himmel im Schmerz
Monika Liechti
Hongkong 2014, aus dem Englischen übersetzt und editiert 2024
«Bis jetzt nicht», antwortete ich mit einem Lächeln. Mal schauen, was noch kommt.